Leben in „The Six“ (Toronto)

Erfahrungsbericht von Gwyneth WagnerOntario

Für mich stand schon seit langer Zeit fest, dass es während meiner Schulzeit zu einem Austauschjahr kommen sollte. Nicht nur war es ein Wunsch meiner Eltern, sondern ich wollte auch die Welt entdecken, Menschen kennen lernen, meine Sprachkenntnisse aufpeppen und Erfahrungen und Eindrücke sammeln. Anfangs fiel es mir noch schwer mir vorzustellen, dass ich ein Jahr lang in einer vollkommen anderen Umgebung leben würde. Es wirkte surreal. Aber nach wochenlangen Vorbereitungen und Absprachen mit der Organisation, nachdem die Gastfamilie feststand, der Schulplatz gesichert war und der Austausch Anlauf nehmen konnte, kamen dann endlich die letzten Wochen in der geliebten Heimat, in denen ich zum Beispiel Zeit mit Familie und Freunden verbrachte. Dann wurden die letzten organisatorischen Schritte gemacht mit der Gastgeschenksuche, dem Kofferpacken und der Dokumentationssammlung. Schließlich kam der Tag des Abfluges. Abschied zu nehmen fiel mir nicht unbedingt besonders schwer, weil mir klar war: nach einem Jahr kehre ich zurück. Damit kann man sich viele Tränen ersparen. Natürlich war ich trotzdem traurig, weil ich wusste welch einen langen Zeitraum ich in Kanada verbringen sollte. Diese so unglaublich langen zehn Monate sollten sich noch als eine recht kurze, aber wundervolle Zeit entpuppen.

Mein Austauschjahr fand in Toronto, Ontario statt, eine Metropole im Osten Kanadas. Toronto ist eine der multikulturellsten Städte weltweit und bietet alles, was das Herz begehrt. Eine enorme Stadt, die New York City erstaunlich ähnelt.

Yonge Street während eines Straßenfestes

Yonge Street während eines Straßenfestes

CN Tower vom Fuß

CN Tower vom Fuß

Weite Grünflächen und gut gepflegte Parks, in denen man in der Hauptstadt Ontarios auch mal ein ruhiges Fleckchen finden kann. Das eigene, persönliche, kleine Meer vor der Haustür: Lake Ontario. Genau genommen ist es kein Meer, sondern tatsächlich nur einer der fünf großen Seen, die sich bis in die USA erstrecken, aber das Ozean-Feeling kommt trotzdem durch die gigantischen Dimensionen des Sees und den dazugehörigen Strand auf.

Strand Toronto Islands

Strand Toronto Islands

Skyline Toronto von den Toronto Islands aus

Skyline Toronto von den Toronto Islands aus

Auch wenn ich nicht direkt Downtown oder in der Nähe der Strände gewohnt habe, als ich bei meiner Gastfamilie lebte, war es doch unfassbar genial. In die Stadtmitte zu fahren (ungefähr 20 Kilometer von meinem Zuhause), dauerte ungefähr 45 Minuten per Subway. In die Schule zu kommen kostete mich etwa 30 Minuten per Bus, und das waren 7 Kilometer. Es ist wahrhaftig erstaunlich, wie lange man in Toronto im Verkehr stehen und Zeit verplempern kann. Aber solche Kleinigkeiten schulten zum Beispiel meine Geduld, da ich das aus meiner etwas kleineren Heimatstadt Potsdam nicht gewohnt war.

Blick vom Highway auf die Hochäuser entlang Yonge Street

Blick vom Highway auf die Hochäuser entlang Yonge Street

In meiner Schule habe ich ziemlich schnell Anschluss gefunden bei den verschiedensten Gruppen von Leuten. Natürlich war es nicht einfach – überhaupt nicht. Aber sobald ich wirklich probierte, mit den Menschen zu reden, zu kommunizieren und auf die Leute zuzugehen, öffneten sich meine Mitschüler und es fiel mir leichter, eine Bindung zu schließen. Außerdem musste ich nicht mal viele Freunde finden, sondern entdeckte einige wenige Personen für mich, die mich dann aber wiederum mit deren Freunden bekannt machten. Somit hatte ich nach geschätzten drei Monaten ein ausgesprochen stabiles Netz und einen breiten Fächer an Freunden. In den meisten Kursen fand ich Genossen, mit denen der Unterricht gleich mehr Spaß machte, aber natürlich gab es auch Kurse, in denen ich förmlich im Unterrichtsstoff versank.

Meine Schule (York Mills Collegiate Institute)

Meine Schule (York Mills Collegiate Institute)

Gang in der Schule

Gang in der Schule

Das kanadische Schulsystem ist komplett anders, als das unsere. Meiner Meinung nach wird das Individuum in Kanada sehr viel mehr gefördert durch die angepasste und auf einen abgestimmte Kursauswahl. Im ersten Semester belegte ich Englisch in der 10. Klasse, Drama in der 11. Klasse, Volleyball in der 10. und 11. Klasse (gemischter Kurs) und Französisch in der 12. Klasse. Somit konnte ich individuell die Klassen wählen, die für mich am geeignetsten waren, auch von der Klassenstufe her. In Englisch habe ich meine engsten Freunde geschlossen, obwohl ich anfangs nicht begeistert war, in die 10. Klasse zu kommen, da ich nun schon ein Jahr älter war. Auch war ich nicht unbedingt sehr tolerant in diesem Bereich, aber da ich in Toronto war, um unter anderem auch neue Menschen kennen zu lernen, wollte ich auch den 10.-Klässlern eine Chance geben und fing damit bei meiner Sitznachbarin, Noura, an. Noura sollte später eine meiner besten Freundinnen werden und mich eigentlich all meinen weiteren Freunden vorstellen. Jedenfalls machte der Unterricht dadurch gleich viel mehr Spaß, obwohl das auch das einzige Fach im ersten Halbjahr war, an dem wir beide teilnahmen. In Drama konnte ich glücklicherweise auch recht schnell Anschluss finden, besonders weil die Leute im Kurs sehr aufgeschlossen waren und teilweise einfach auf mich zugingen und sagten: „Hi, ich bin Asli.“, mir die Hand gaben und dann weiterfragten: „Wer bist du?“ Ich fand das super sympathisch, obwohl es zugegebenermaßen anfangs ein wenig komisch kommt, aber als Austauschschüler hatte ich immer im Hinterkopf, dass ich das einfach schätzen und besonders offen gegenüber meinen Mitmenschen sein sollte.

Asli und ich in der Stage Crew bei der Talent Show

Asli und ich in der Stage Crew bei der Talent Show

Asli und unsere Drama-Lehrerin (wundervolle Frau) und ich

Unsere Drama-Lehrerin (wundervolle Frau) und Asli und ich

Das war ein großer Teil meines Austausches: Einfach mal was anderes. Sich auf andere Leute und Verhältnisse und eine andere Umgebung einlassen. Und die Leute, die so auf mich zugingen, wurden schlussendlich auch einige meiner engeren Freunde. Außerdem macht es viel mehr Spaß, sich auf viele verschiedene Menschen einzulassen, weil man so unendlich viel Neues lernt, auch wenn es banale Dinge über die Herkunft sind (was aber besonders in Toronto sehr interessant war, wegen der großen Multikultur). Drama, denke ich, war zudem besonders hilfreich, weil man vorne auf einer Bühne stand als völliger Anfänger, und natürlich auch Stücke und Texte vortragen musste. Zu Beginn konnte das einem schon mal Angst einjagen, besonders, weil man nicht von dort stammt, aber ich kann nur eins sagen: Keine Angst! Die anderen sind mit Sicherheit auch scheu auf die Bühne zu gehen, das ist menschlich, und außerdem sind die meisten dort unglaublich liebenswürdig und akzeptierend. In Volleyball konnte ich eher weniger Freunde finden, aber das hat mich überhaupt nicht gestört. Natürlich muss man als Austauschschüler auch mit so was rechnen, aber genau deswegen ist es ja gerade so super, dass man sich die Kurse frei auswählen darf. Volleyball ist eine meiner Lieblingssportarten und ich hatte wirklich immer Spaß und Lust dort hinzugehen, obwohl ich nicht wirklich Kontakte schloss. Zu guter Letzt Französisch, was ich in der zwölften Klasse belegte. Das gab mir einen etwas gründlicheren Einblick in das Leben der „Seniors“, und ich konnte mein Französisch weiter schulen, vorbereitend auf die Oberstufe in Deutschland.

Im zweiten Halbjahr belegte ich Food and Nutrition, Kunst in der 11. Klasse, Gitarre und Mathematik in der 11. Klasse. Food and Nutrition durfte ich wieder mit meinen besten Freunden genießen, darunter natürlich auch Noura. Außerdem war es irre toll, im Unterricht was kochen oder backen zu dürfen. In Deutschland hätte ich an meiner Schule nie dazu die Möglichkeit gehabt! Außerdem war es echt vorteilhaft für mich, den Kurs anzuwählen, da ich in der Küche eine Niete war. Jetzt kann ich sogar noch meinen Eltern wichtige Dinge über die Sicherheit beim Kochen erklären und zum Glück viel öfter am Herd stehen als davor. Kunst spezialisierte sich in meinem Kurs auf das Malen, und das war für mich wie eine förmliche Erholung. Sogar während der Mittagspausen wurde ich von meinen Freunden vermisst, weil ich freiwillig im Kunststudio an meinen Gemälde weiterarbeitete. Mit dem Gitarrenunterricht war mein musikalischer Zweig auch gefördert. Gitarre konnte ich vor dem Unterricht noch nicht spielen und skeptisch war ich auch, ob das überhaupt etwas bringen würde. Am Anfang war es eine Qual, zu spielen. Und nach kurzer Zeit habe ich es lieben gelernt; so sehr, dass ich heute noch fast jeden Tag zu der Gitarre greife, die meine Mutter früher in meinem Alter spielte. Mathematik, obwohl ich im 11.-Klasse-Kurs war, wirkte für mich eher wie eine Wiederholung all der Dinge, die in Deutschland schon abgearbeitet wurden. Das war eher eine Enttäuschung, aber selbst davon lässt man sich nicht unterkriegen, weil es nach einem halben Jahr ohne mathematisches Denken eigentlich eine unfassbar hilfreiche Wiederholung für die Oberstufe in der guten Heimat war.

Mein Leben in Toronto fokussierte sich definitiv auf meine Freunde. Jeden Tag verbrachte ich mit meiner besten Freundin: Noura.

Noura und ich

Noura und ich

Noura war in beiden Halbjahren in jeweils nur einem Kurs mit mir, und wir sind trotzdem fast 24/7 zusammen gewesen. Noura stellte mich vielen ihrer Freunde vor, zu denen ich auch enge Beziehungen aufbaute. Mit diesen Leuten bin ich immer noch in Kontakt.

Meine Gastfamilie war wundervoll. Ich lebte mit einem etwas älterem Ehepaar und ihrer Enkeltochter zusammen in einem bescheidenen Reihenhaus. Es war schlicht aufgebaut mit einem „Keller“, der als Fernsehzimmer diente, einem 1. Stock, in dem sich die Küche, das Esszimmer und ein Wohnzimmer befanden, und zu guter Letzt der 2. Stock mit Badezimmer, Arbeitszimmer und drei Schlafzimmern.

Mein Zuhause

Mein Zuhause

Meine Gasteltern hatten glücklicherweise schon 25 Jahre Austauscherfahrungen, sprich: Solange nehmen sie bereits Gastschüler bei sich auf. Somit war klar, wie mit mir umzugehen war. Es gab wenige, aber wichtige Regeln, wie zum Beispiel: Ausgehzeiten, Essenszeiten, Duschverhalten, Mülltrennung, Abwasch, etc. Eigentlich übernahm ich alles, was mich betraf, alleine, aber aus eigenem Willen. Geschirr, was ich schmutzig gemacht hatte, musste ich natürlich selbst auch wieder abwaschen; andere Dinge wie Wäschewaschen übernahm ich freiwillig.

Als ich frisch in Toronto angekommen war kümmerten sich meine Gasteltern auch schnell um einen Handyvertrag und informierten mich darüber, ob es notwendig sei, ein kanadisches Bankkonto zu erstellen (es ist sicherlich ratsam, aber ich habe darauf verzichtet und bin mit meiner EC-Karte sehr gut ausgekommen).

Kanadische Herbstfarben

Kanadische Herbstfarben

Anfangs aß ich jeden Tag mit meiner Gastfamilie zu Abend, aber das änderte sich relativ schnell, als meine Freunde eine größere Rolle in meinem kanadischen Leben spielten. Meistens war ich bis durchschnittlich acht Uhr abends mit Leuten unterwegs – Noura war wie ein Leitfaden in diesem Bereich. Durch sie lernte ich unzählig viele Menschen kennen und so viele extreme Persönlichkeiten, dass ich eigentlich nur dankbar sein kann, so eine Erfahrung gemacht zu haben.

Blick vom CN Tower auf die Toronto Islands

Blick vom CN Tower auf die Toronto Islands

Den CN-Tower kann man von überalll sehen – ein guter Orientierungspunkt

Den CN-Tower kann man von überalll sehen – ein guter Orientierungspunkt

Auf der anderen Seite der Toronto Islands und man kann immer noch den CN Tower sehen

Auf der anderen Seite der Toronto Islands und man kann immer noch den CN Tower sehen

Auch mit meiner Gastschwester (also der Enkeltochter meiner Gasteltern) verstand ich mich auf Anhieb sehr gut. Gleich an meinem Ankunftstag gingen wir noch am Abend die Nachbarschaft erkunden und sie erklärte mir vieles was ich als Toronto-Neuling wissen musste. Sie konnte ich mit der Zeit glücklich auch zu meinen besten Freunden schätzen und heute reden wir schon über nächsten Sommer, wenn ich „The Six“ (Toronto) und meine Freunde dort wieder besuchen werde.

The exhibition – Riesen Rummel in Toronto Downtown

The exhibition – Riesen Rummel in Toronto Downtown

Natürlich stellte mich meine Gastschwester, Elysha, auch ihren Freunden vor, mit denen ich wiederum Freundschaften schloss…

Elysha und ich an Halloween

Elysha und ich an Halloween

Elysha und ich auf dem Geburtstag ihrer Cousine

Elysha und ich auf dem Geburtstag ihrer Cousine

Ich denke, die letzten Monate, Wochen und dann Tage sind die schlimmsten. Denn so ein Austausch ähnelt tatsächlich einer kleinen Achterbahn. Man weiß einfach nie, was auf einen zukommen wird, und im Laufe der Zeit ändert sich so viel – man selbst eingeschlossen. Man tritt praktisch einen Selbstentwicklungsprozess an, der besonders die Eigenständigkeit fördert, aber auch neue Perspektiven liefert. Wie auch immer – wenn der Austausch dann fast rum ist, kommt eigentlich die schönste Zeit, weil umso weniger dort wegmöchte, je mehr Zeit man bereits dort verbracht und sich an das neue Leben dort gewöhnt hat. Und das ist auch genau der Grund, warum ich stolz behaupten kann: Toronto ist mein zweites Zuhause. Am Anfang sagte ich immer: In Deutschland habe ich Menschen die auf mich warten. Jetzt kann ich sagen: Und auch in Toronto habe ich mein eigenes kleines Leben und einige, aber wichtige Menschen, die auf mich warten.

Mein Austausch war wahrscheinlich eines der besten Dinge, für die ich mich je entschieden habe. Ich lernte nicht nur viel über mich selbst als Person, sondern zum Beispiel, was ich in meiner Heimat schätzen sollte und darf. Auch wenn ich noch nicht erwachsen bin, fühle ich mich ein großes bisschen erwachsener.