Ich bin Lara, komme aus der Schweiz und habe sechs Monate in Montreal, Kanada verbracht. Damit durfte ich mir einen absoluten Traum von mir erfüllen.
Die Idee, ein Auslandssemester zu machen, begeistert mich seit der achten Klasse. Ich liebe Sprachen, reise gerne, und vor allem bin ich neugierig. Als ich dann an meiner Schule herausfand, dass so eine Unterbrechung für ein Semester möglich ist, habe ich mich quasi mit Kopfsprung in die Organisation davon gestürzt – und musste ein bisschen frustriert feststellen, dass es sehr viel langsamer voranging, als ich wollte. Das ist ein grosses Projekt und will gut überlegt sein, ausserdem stellen sich einige Fragen und Bedingungen. Der erste und für mich auch schwerste Schritt war das Entscheiden für eine Destination. Wohin? Auf die Idee mit Kanada hat mich meine Mutter gebracht, aus einem einfachen Grund: dort spricht man Englisch UND Französisch. Eine geeignete Organisation spezifisch über die Destination zu finden war dann viel einfacher als zuvor ganz generell. Von einem Lehrer bekam ich den Tipp Montreal, und der Gedanke an eine Grossstadt hat mich hell begeistert. Das Wo war geklärt. Die Schule stellt einen recht strikten Vierjahresplan an obligatorischen Schularbeiten, das hat dann auch das Wann geklärt (die einzige Lücke), und mein Wiedereintritt wurde nur mit einem bestimmten Notenschnitt stattgegeben. Und dann war eigentlich alles soweit und es begann ein Weg durch Berge von Dokumenten, der ohne isec als Hilfe wohl kaum zu bewältigen gewesen wäre.
Meine beiden Brüder, meine Eltern und mein Freund brachten mich zum Flughafen. Als ich sie an der Sicherheitskontrolle zurücklassen musste, hatte ich Angst, feuchte Augen und ein unfassbares Gefühl des Abenteuers und der Selbstständigkeit. Als das Flugzeug abhob, kamen mir die Tränen. Jetzt bin ich weg.
Und gleich darauf kam die Euphorie: Jetzt fängt es an!!
Debbie und Larry, meine Gasteltern sind zwei echte Rock’n’Roller, was ich genial finde, und liebenswerte Menschen. In meinem Zimmer standen zwei grosse Kisten voller LPs und ein Plattenspieler, und oft durfte ich am Wochenende eine Platte aussuchen und wir hörten sie gemeinsam. Mein Zimmer war zwar relativ klein, aber sehr gemütlich, und ich mochte es sehr. Debbie ist Sekretärin an der High School, in der ich zur Schule ging, und dreiviertel Irin, was ihre von ihr gerne mit Schalk zelebrierte „Kartoffelsucht“ erklärt. Ich habe mich sehr gut mit ihr verstanden und viele lange Gespräche mit ihr geführt und sie sehr lieb gewonnen. Larry ist in Portugal geboren und Automechaniker, er fuchst gerne seine Mitmenschen und ist ein ziemliches Schlitzohr (beim Backgammon-spielen muss man aufpassen, er schummelt). Ausser Debbie, Larry und mir war da noch Jack, ein bereits 9 Jahre alter und sehr friedlicher Pitbull. Das Haus hat eine Veranda und einen kleinen Garten mit einem Gemüsebeet und einer Wäscheleine, es ist nicht gross, aber mit viel Liebe eingerichtet. Ebenfalls zur Familie gehören Mindy und Eric, das sind ihre beiden Kinder. Sie sind ausgezogen, Mindy wohnt knapp 20 Minuten entfernt, Eric in der Hauptstadt Ottawa. Beide sind extrem offen und herzlich. Eric umarmte mich nach dem ersten gemeinsamen Essen mit den Worten „Welcome, my new host sister“. Mindy lernte ich bereits an meinem ersten Tag in der Familiekennen, zusammen mit ihrer Tochter Aviana. Als ich ankam, hatte sie gerade begonnen, sich an Stühlen hochzuziehen, als ich ging, konnte die Kleine schon sehr gut laufen. Linda (Debbies Nichte) und ihre kleine Tochter Aliya waren oft zu Besuch, und ich genoss es sehr, mit den beiden Mädchen Erfahrungen sammeln zu können. Ich selbst habe in meiner Bekanntschaft keine so kleinen Kinder, und die beiden beim Lernen zu beobachten, war unglaublich faszinierend. Das Familienleben war sehr gemütlich und auf gemeinsame Zeit ausgerichtet, wir gingen nicht sonderlich oft auf Ausflüge, aber hatten eigentlich immer Besuch von Familie und Freunden, es war sehr gesellig.

Aliya
Ich konnte in viele verschiedene kanadische Haushalte hineinsehen, wenn wir bei Freunden zu Besuch waren, und das war wirklich spannend. Manche Häuser kamen mir vor wie aus amerikanischen College-Filmen, das Klischee wurde da durchaus ein paar Mal bestätigt. Was sich auch wirklich bestätigt hat ist der Ruf des Kanadiers, extrem höflich und offen zu sein, ich habe mich überall sehr willkommen gefühlt und war rasch integriert, ich habe sehr viele sehr nette Menschen kennengelernt.
Mit meiner Familie zu Hause traf ich die Abmachung, nur noch jede zweite oder dritte Woche zu skypen (mit meinem Freund natürlich weiterhin wöchentlich), um mehr zu erzählen zu haben und auch wirklich „weg“ von zu Hause zu sein.

Meine Ju Jitsu Gruppe
Auf der Suche nach einem japanischen Kampfsport (da ich das auch in der Schweiz trainiere) fand ich ein Dojo für Brazilian Ju Jitsu keine fünf Minuten von meinem Zuhause entfernt. Die Leute dort waren unglaublich offen, und das trainieren mit ihnen hat mir sehr gut getan, ich hatte viel zu lachen und zu lernen.
Ende April heiratete Eric nach sieben Jahren Beziehung seine Freundin Karen, das Fest war gigantisch. Die ganze Zeit davor wurde über nichts anderes geredet. Ich ging mit Debbie und Mindy ihr Kleid von der Schneiderin holen, es war marineblau und sehr schön, aber ich glaube nicht, dass ich in der Schweiz etwas so glitzerndes gesehen hätte.
In der Kirche schluckte Eric die Tränen herunter, als seine Braut den Gang entlang kam, und das schönste war das dauerhafte Strahlen der beiden für den Rest des Abends. Mit etwa 200 Gästen war es eine grosse und auch ausgelassene Party, und alle waren unheimlich freundlich zu mir und sehr offen, ein genialer Abend und für mich definitiv ein Highlight der Zeit in Montreal.
Leider erst nach der Hochzeit kam Galina, eine 19-jährige Berlinerin, die vor zwei Jahren bei Debbie und Larry gelebt hatte, sie brachte viel Leben mit und ein bisschen verrückte Stimmung, sie war echt toll. Es war spannend, unsere Erlebnisse zu vergleichen und welche Unterschiede wir zwischen zu Hause und Kanada feststellten, und es brachte auch Abwechslung, jemand gleichaltriges da zu haben.
Streetart
Das Beste fand ich jedoch die Stadt selbst. Montreal zu erkunden, hat mir unheimlich Spass gemacht, das war wirklich ein Gefühl von Freiheit und Selbständigkeit. Dazu kommt, dass ich als Landei das Grossstadtleben wirklich nicht gewohnt bin. Ich habe es geliebt. Überall Kultur, in Form von Theater, Musikfestivals, Kunstläden, und vor allem Murals, das sind grosse Wandmalereien.
Eine New York Band am Jazzfestival
Nachdem die Schule vorbei war, verbrachte ich viel Zeit damit, zu Fuss die Stadt zu erkunden, ich lief auch oft nachts von der Metro nach Hause, es war keine gefährliche Gegend.
Montreal hat viele Eigenheiten, es fängt nur schon mit der Sprache an. Obwohl ich fliessend Französisch spreche, dauerte es drei Wochen, bis ich den Akzent verstehen konnte, und bis zum Schluss konnte ich schwerere Akzente einfach nicht verstehen. Andere Dinge lernte ich erst kennen, als ich dort war, und einmal entdeckt, habe ich die kleinen Merkwürdigkeiten geliebt. Überall hat es Deppanneurs, kleine Geschäfte, die alles für den täglichen Gebrauch verkaufen, nur ziemlich überteuert, jeder Fahrradkorb ist eigentlich eine kleine, grüne Obstkiste aus dem Supermarkt, die Strassen sind von Rissen durchzogen, und vor dem Bus stellt man sich ordentlich in eine Einerkolonne auf, um einzusteigen.
Die Zeit allein in der Stadt hat mich mutiger gemacht, so zu sein, wie ich sein möchte. Man fällt nicht so schnell aus dem Rahmen in Montreal, die sind dort einiges gewohnt, und das zu entdecken hat sehr Spass gemacht. Ich habe viel Zeit mit nachdenken verbracht, über Werte und was mir wichtig ist, auch für meine Zukunft. Man kommt an einen fremden Ort und erkundet, was ist anders, was ist gleich, und dabei stösst man auf viele sehr grundlegende Haltungsfragen. Ich denke, so viele verschiedene Familien zu sehen und damit auch verschiedene Wege, zu leben und glücklich zu werden, ist etwas sehr Bereicherndes, weil man sich den eigenen Gewohnheiten und Prägungen bewusst wird und auch einige Dinge neu ordnet.
Ganz fest bestimmt man selbst, wie die Zeit im Ausland wird, aber auch die Gastfamilie ist ein sehr grosser Einfluss. Das sollte man nicht unterschätzen, und es ist eine unbekannte Variable, auf die man sich einfach einlassen muss.
Meine letzten beiden Wochen in Kanada waren noch einmal etwas Aussergewöhnliches: Meine Mum kam mich besuchen! Wir hatten uns über AirB&B ein kleines Studio gleich über der Gay Village gemietet, und von dort aus führte ich sie durch die Stadt. Dass jemand von meiner Familie kam war etwas sehr Wichtiges für mich, weil ich so endlich zeigen konnte, wo ich gelebt hatte diese sechs Monate. Auch konnte meine Mutter meine Gastfamilie kennenlernen, ebenso eine Schweizer Familie, entfernte Bekannte von uns, bei denen ich ab und an zu Besuch gewesen war und die unglaublich herzlich zu mir gewesen waren. Ihr die Stadt zu zeigen war der Hammer. Wir hatten einander wirklich viel zu erzählen, und es tat auch gut, festzustellen, wie viel ich von der Stadt kennengelernt hatte und ihr nun zeigen konnte. Nach einer Woche in der Stadt und weiten Strecken zu Fuss wechselten wir zu noch viel weiteren Strecken im Auto: wir fuhren sechs Stunden zu einem Campingplatz im Norden.
Kanadas Norden
Zuvor hatte ich immer nur ein Verbundenheitsgefühl mit Montreal, und nicht mit Kanada selbst. Die letzte Woche änderte das. Die Fahrt führte uns durch Wald ohne Ende. Es fühlte sich an, als wären wir neben einem sehr grossen Kalender von National Geographics, ich hätte am liebsten die ganze Zeit über gefilmt. Wir hatten eine kleine Hütte mit Wasser und Strom gemietet, weil unser Gepäck schon ohne Zelt gross genug war (also, eigentlich einfach meines), und draussen am Tisch vor der kleinen Cabane war es dann wirklich Kanada. Bäume und eisig kaltes Wasser und Streifenhörnchen und Mücken. Von unserem Campingplatz aus konnten wir zu Fuss zu einer Walbeobachtungsstelle laufen, ein grosser Felsrücken im Fluss. Am ersten Tag zog bereits nach zwei Stunden ein Wal sehr nahe an uns vorbei, wir konnten ihn atmen hören. Das war Wahnsinn.
Wir kamen bei der Suche nach einem Lebensmittelgeschäft in ein Indianerreservat, an jeder Strassenlaterne hing ein Traumfänger aus Holz, eine interessante Kombination aus Tradition und Moderne. Auf dem Rückweg fuhren wir über Baie Saint Paul, einem sehr hübschen und auch sehr kunstbegeisterten kleinen Dorf nach Quebec City, wo wir es wegen der Touristenströme nicht allzu lange aushielten.
Zurück in Montreal kam der Abschied.
Meine Gastfamilie hatte mich und meine Mum zu einem gemeinsamen Abendessen bei ihnen zu Hause eingeladen, Debbie hatte eine Lasagne gemacht, Mindy war da mit ihrem Mann und der kleinen Aviana, Linda und Alyia waren ebenfalls zu Besuch, und wir saßen lange beisammen. Es war ziemlich seltsam, dass ich am nächsten Tag einfach nach Hause fliegen würde. Ich konnte es mir kaum vorstellen. Aber ich freute mich unheimlich darauf, ich wollte endlich zu Manuel zurück.
Montréal aus dem Flugzeugfenster
Als das Flugzeug in der Luft war und eine Kurve über die Stadt flog, kamen mir die Tränen, wieder einmal, das war es jetzt, ich lasse „meine“ Stadt zurück.
Ich hatte etwas Angst vor der Reintegration, was war mein Leben doch anders gewesen in Montreal, doch eine Umarmung von jedem Familienmitglied und ich war wieder zu Hause, als fester und selbstverständlicher Teil von allem. Da war es auf einmal merkwürdig, dass es nicht merkwürdig war. Ich hätte Montreal gerne mehr vermisst, es präsenter gehabt, und habe deshalb Bilder in meinem Zimmer aufgehängt, Erinnerungsstücke verteilt. Es ist beeindruckend, wie schnell man wieder vergisst.
Was ich sicher über meine Zeit in der Stadt sagen kann, ist, dass ich sehr viel näher am Wasser gebaut war als üblich. Auch selbstkritischer. Man sieht in unglaublich viele Dinge hinein und das kann anstrengend sein, vor allem aber ist es unheimlich spannend! Man findet nämlich nicht nur Dinge über die fremde Kultur heraus, sondern vor allem auch über sich selbst. Und wenn man sich selbst schon ein wenig gefunden hat, kann es richtig Spass machen, zu wissen, was man will.
Und ich will einmal zurückkommen.
Der Bericht wurde stellenweise aus organisatorischen Gründen gekürzt.